Mitten im Bramwald, unweit von Hemeln, rechts der Weser, findet sich ein verlassener Turm. Es ist der Rest der Bramburg, die wahrscheinlich im 11. Jahrhundert von einem Corveyer Abt als Schutzburg erbaut und als Lehen vergeben wurde. Schließlich wurden die dortigen Lehnsinhaber zu Raubrittern, so dass der Herzog von Sachsen im 15. Jahrhundert diese Burg erstürmen, belagern und anzünden ließ. Seit einer Plünderung dieser Burg im Dreißigjährigen Krieg hat man von der Bramburg nicht mehr viel gehört.
Mich erinnert dieser verlassene und geheimnisvoll wirkende Turm im Bramwald an die Legende der Heiligen Barbara und das Märchen vom Rapunzel. Beide dieser jungen Frauen waren in einem Turm eingekerkert. Das Gedenken der Heiligen Barbara ist am 4. Dezember.
Barbara landete im Turm, weil sie – wie viele der frühchristlichen Jungfrauen und Märtyrerinnen – sich weigerte, den Mann zu heiraten, den ihr Vater für sie bestimmt hatte. Rapunzel wurde in den Turm gesperrt, weil ihr Vater, der unter Druck geriet, sie „Frau Gothel“, einer Zauberin versprach, die diese offensichtlich für sich alleine haben wollte.
In beiden Erzählungen, der „Mär“ von Barbara und dem „Märchen“ vom Rapunzel, geht es nicht um das Individuelle, sondern das Typische; es geht im Kern um den Weg zur Freiheit und Selbstbestimmung schlechthin.
Trotz zweier unterschiedlicher Narrative gibt es aus meiner Sicht in beiden Erzählungen (Mär und Märchen) deutliche Analogien. Unter Analogie verstehe ich (im theologischen Sinn) grundsätzlich Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Unähnlichkeit.
Was ist in der Mär von Barbara und dem Märchen von Rapunzel ähnlich, was ist unähnlich?
Das Ähnliche bei gleichzeitiger Unähnlichkeit:
Zum einen begegnen Barbara und Rapunzel ihrem jeweiligen Bräutigam in der Gefangenschaft im Turm. Zum anderen enden beide Geschichten gut.
Barbara erleidet zwar den grausamen Tod einer Märtyrerin, aber im Sinne einer frühchristlichen Ikonographie bedeutet der Tod den Sieg über das Böse und die endgültige Hochzeit mit dem himmlischen Bräutigam.
Rapunzel wird schließlich in der Wüste von ihrem Bräutigam wiedergefunden und als Königin heimgeführt.
Das Unähnliche bei gleichzeitiger Ähnlichkeit:
Barbara wird auf geheimnisvolle Weise eins mit Christus in der Form des Empfangs des Heiligen Abendmahles, das ihr durch einen Engel dargereicht wird. Doch Barbaras Bräutigam bleibt immer unsichtbar, rettet sie aber dennoch vor dem ewigen Tod und krönt sie im Himmel.
Rapunzels Bräutigam hingegen ist ein ganz irdischer Prinz und zeugt sogar im Turm mit ihr Zwillinge, wie am Ende des Märchens enthüllt wird.
Und noch etwas ist entschieden unähnlich: Rapunzels Bräutigam ist eigentlich kein Held. Als ihm die Zauberin sagt, dass für ihn Rapunzel verloren sei, und er sie nie wieder erblicken werde, macht er der Hexe nicht etwa den Garaus, sondern springt verzweifelt den Turm herunter, gerät dabei in Dornen, die ihm sein Augenlicht zerstören, und irrt orientierungslos durch den Wald.
Irgendwann nimmt er in seiner Blindheit die Stimme von Rapunzel wahr, folgt dieser Stimme und wird von ihr gefunden. Sie weint um ihn und zwei Tränen benetzen die Augen des Prinzen; er kann wieder sehen und alles wird gut.
Nicht der Prinz erlöst Rapunzel, sondern Rapunzel erlöst den Prinzen, nachdem er wie schon am Beginn des Märchens ihrer Stimme gefolgt ist.
Und an dieser Stelle treffen sich die Mär und das Märchen wiederum ähnlich und gleichzeitig ganz unähnlich.
Im Mittelpunkt beider Narrative steht etwas Unsichtbares, das aber hörbar ist - die Stimme. Die sichtbare Barbara vernimmt die Stimme des (noch) unsichtbaren Bräutigams. Der sichtbare Prinz vernimmt die Stimme der (noch) unsichtbaren Braut. Sowohl Barbara als auch der Märchenprinz folgen der unsichtbaren Stimme und finden so in das Leben.
Im Grunde genommen ist das Märchen vom Rapunzel die Umkehrung der Mär von der Heiligen Barbara. Erlösung findet hier nicht durch den männlichen Bräutigam, sondern durch die weibliche Rapunzel statt. Mär und Märchen erzählen von derselben Erlösung aus der Isolation aus je unterschiedlichen Blickrichtungen.
Zur Erlösung aus der Isolation im Turm führt jeweils das Hören auf die unsichtbare Stimme (Gottes), die in der Mär durch den himmlischen Bräutigam und im Märchen durch Rapunzel repräsentiert wird.
Die Rettung bringt sowohl in der Mär als auch im Märchen die unsichtbare Stimme. Ich deute sie in der Mär und dem Märchen als die Stimme Gottes. Gott ist weder Mann noch Frau, weil Gott Gott ist.
UTGH
