Das Kirchenjahr neigt sich langsam, aber sicher dem Ende zu. Morgen ist Volkstrauertag, am kommenden Sonntag begehen die evangelischen Christinnen und Christen den Toten- oder Ewigkeitssonntag und die Katholikinnen und Katholiken feiern das Hochfest Christkönig. Am Ersten Advent dann beginnt das neue Kirchenjahr.
Früher begann nach dem Martinstag eine Fastenzeit, die bis Weihnachten andauerte, daher erklärt sich auch in manchen Gegenden das karnevalistische Treiben am 11.11. in Analogie zum Karneval vor der Österlichen Bußzeit, die immer am Aschermittwoch beginnt.
Uns bleibt heute wenig Zeit, um in die Stille zu gehen. Der Aufbau von Weihnachtsmarktbuden läuft derzeit auf Hochtouren, und viele Geschäftsleute, Mitbürgerinnen und Mitbürger empfinden die Tatsache, auf Tage wie Volkstrauertag und Totensonntag Rücksicht nehmen zu müssen, als rückwärtsgewandte Gängelei. Der stille Buß- und Bettag als staatlicher Feiertag ist inzwischen in fast allen Bundesländern Geschichte, weil er sich nicht rechnete...
Bald werden die Weihnachtsmärkte ihren Betrieb aufnehmen, denn die Adventszeit ist inzwischen durch die „Vorweihnachtszeit“ ersetzt worden. Kein Wunder, dass dann viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen spätestens am 26.12. den Weihnachtsschmuck entsorgen müssen, denn nach mehr als vier Wochen Dauerberieselung und betrieblichen Weihnachtsfeiern sind wir dann des weihnachtlichen Putzes verständlicherweise überdrüssig.
Früher war es anders: Erst mit Weihnachten begann die Weihnachtszeit, deshalb war der Vorabend von Weihnachten, der Heiligabend ein Fasttag. Deshalb essen manche auch an diesem Abend Fisch. Ab Weihnachten hatten die Leute dann 40 Tage Zeit, dieses Fest zu feiern, das erst am 2. Februar mit Mariae Lichtmess seinen Abschluss fand. Auf diese Weise war die dunkle Jahreszeit sehr gut durch Unterbrechungen strukturiert.
Die ursprüngliche Prägung des Novembers als Totenmonat und eine Zeit, über die letzten Dinge nachzudenken, können wir auf eine mich nach wie vor beeindruckende Weise erfahren, wenn wir uns auf den Weg in die St. Augustinus-Kirche in der Lohstraße in der Rattenfängerstadt Hameln an der Weser machen. Dort begegnen wir einem außergewöhnlichen Wandteppich, den der Künstler Ewald Mataré (1887-1965) entworfen hat.
Dieser Wandteppich stellt implizit Tod und Gericht und explizit Himmel und Hölle dar, also die Vier Letzen Dinge. In der himmlischen Sphäre erkennen wir Maria und alle, die mit ihr bereits vollendet sind. In der Finsternis der Hölle entdecken wir die Unerlösten. Ein dramatisches Bild in einer Kirche, die nach dem 2. Weltkrieg erbaut wurde, weil die alte Kirche am Hamelner Ostertorwall für die Gemeinde, die sich durch Geflüchtete und Vertriebene vervielfachte, zu klein geworden war. Für mich hat dieser monumentale Teppich etwas Tröstliches und Hoffnungsvolles. Warum?
Erstaunlicherweise entdecken wir auf diesem Teppich den Patron dieser Kirche, den Kirchenvater Augustinus, an der Grenze zwischen Himmel und Hölle. Vielleicht wollte der Künstler damit ausdrücken, dass sich der Heilige Augustinus, wie dieser selbst in seinen „Bekenntnissen“ beschreibt, manchmal in seinem Leben der Hölle näher war als dem Himmel. Man könnte vielleicht auch auf die Idee kommen, dass er sich denen, die unten sind, zuwenden möchte.
Das jüngste Gericht ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der Verkündigung Jesu, aber dieses Gericht kann nur im Zusammenhang mit der gesamten Verkündigung Jesu verstanden und gedeutet werden. Unter anderem sagt Jesus: „Ich bin nicht gekommen, um Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen.“(Lk 5,32) Oder: „Ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten.“ (Joh 12,47)
Vielleicht könnte uns beim Blick auf den großen Wandteppich in St. Augustinus auch der Gedanke helfen, dass es beim Gericht Gottes darum geht, dass die gequälten Menschen, die auf diesem Teppich völlig durcheinandergewirbelt im höllischen Bereich dargestellt sind, aufgerichtet werden. Gott will durch sein Jüngstes Gericht die Gefallenen und Zertretenen endgültig aufrichten.
Die christlichen Kirchen tun sich bisweilen schwer mit den Letzten Dingen, was nicht nur deutlich wird, wenn wir christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern bei Beerdigungen zuhören. Auch in theologischen Abhandlungen erkenne ich Unklarheiten, was aber in der Natur der Sache liegt. Die biblischen Texte ermöglichen verschiedene theologische Denkmodelle.
Die Frage, die sich stellt und letztlich allein aus der Bibel heraus nicht ganz klar beantwortet werden kann, ist die: Wie oder wo verbringen die Toten die Zeit bis zum Jüngsten Gericht, wenn, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, Jesus wiederkommt, um die Lebenden und die Toten zu richten? Hier gibt es verschiedene Erklärungsversuche: Manche sagen, das letzte Gericht findet nach dem Tod eines Menschen statt; es fällt aber zugleich mit dem allumfassenden Jüngsten Gericht zusammen, weil sich ja die Toten außerhalb unserer Dimensionen von Zeit und Raum befinden.
Ältere theologische Entwürfe sagen: Nach dem Tod kommen diejenigen, die sich vor Gott als Heilige bewährt haben, sofort in den Himmel. Dabei wird es vielleicht sehr große Überraschungen geben. Der Rest, zu dem ich mich zähle, kommt in eine Art von „Therapiezentrum“ Gottes; früher nannten wir das auch Fegefeuer oder Purgatorium, um dort auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereitet zu werden.
Das Purgatorium ist für mich nicht ein Ort der Qual, sondern ein Ort der bisweilen schmerzhaften Erkenntnis der eigenen Fehler und Sünden, der Ort das eigene Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten und ein Ort des Gebetes. Je intensiver wir jedoch schon während unseres Lebens die Zeit nutzen, um über die letzten Dinge und unser Tun und Lassen nachzudenken, die Ursache unserer Sünden zu erkennen und Gott und und unsere Nächsten um Verzeihung zu bitten, desto einfacher und kürzer wird uns der Aufenthalt im Purgatorium vorkommen, eben als Ort friedlicher Ruhe. Deshalb betet ja auch die Kirche für die Verstorbenen, indem sie spricht: „Herr, lass sie oder ihn ruhen in Frieden!“
Schließlich erfolgt am Ende der Zeit -und niemand weiß, wann das sein wird - das Jüngste Gericht, in dem Christus zur Rechten Gottes sitzt, um die Lebenden und die Toten zu richten, wie es die Kirche in ihrem Großen Glaubensbekenntnis betet.
Im übrigen war es den frühen Christen nicht egal, wie die Toten bestattet wurden. Die Kirche lehnte beispielsweise die Verbrennung vehement ab, weil sie glaubte und lehrte, dass sich erst am Jüngsten Tag die Seele, die sich entweder schon im Himmel bei Gott oder im Purgatorium befindet, mit dem im Grab befindlichen Leib verbindet, um dann zum Jüngsten Gericht aufzustehen. Deshalb findet sich auch auf dem Grab des Seligen Kardinals von Galen im Dom zu Münster die Inschrift: „Hic exspectat resurrectionem mortuorum...“, auf Deutsch: „Hier erwartet Clemens von Galen die Auferstehung der Toten...“
Kehren wir noch einmal zurück nach St. Augustinus in Hameln. Wenn ich auf die Menschen im höllischen Bereich dieses Teppichs von Ewald Mataré blicke, dann fallen mir nicht zuerst die Sünderinnen und Sünder ein, die in der Hölle sein könnten (wer dort ist, das weiß nur Gott!), sondern die vielen Menschen, welche bereits auf Erden die Hölle erlebten und erleben. Ich denke an die unzähligen Gequälten, Gefolterten, auf vielfache Weise Missbrauchten und Ermordeten.
Herr, schenke ihnen jetzt oder einst das Ewige Leben!
