17 Oct
17Oct

Anfang August 2024 wurde der Ort Gottsbüren im Reinhardswald im nordhessischen Weserbergland von einem verheerenden Starkregenereignis heimgesucht. Am 01.08.2025 schrieb die Hessische/ Niedersächsische Allgemeine:

Vor einem Jahr wälzten sich Wassermassen durch den Kreisteil Hofgeismar und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Die Schäden, die das Starkregenereignis in der Nacht auf den 2. August 2024 in Gottsbüren, Gieselwerder, Helmarshausen, Hümme, Hombressen und Veckerhagen anrichtete, gehen in die Millionen. Vor allem Gottsbüren war enorm betroffen: Der Fuldebach trat über die Ufer und Wasser, Schotter und Schlamm wälzten sich über die Sababurger Straße. In der Unwetternacht fielen in dem Trendelburger Ortsteil rund 160 Liter Regen pro Quadratmeter in der Stunde. Auch nach einem Jahr sind noch nicht alle Schäden beseitigt.“

Wenige Tage stand Gottsbüren im Fokus der Medien, danach wurde es wieder still um dieses Dorf im Reinhardswald. Im 14. Jahrhundert war das anders, da zählte Gottsbüren zu den bekanntesten Wallfahrtsorten der damaligen Welt. Wie kam es dazu?

In oder in der Nähe dieses abgelegenen Dorfes wurde eine sogenannte „Bluthostie“ gefunden, also ein Stück Brot, das wir uns wie eine weiße Backoblate vorstellen müssen, auf der rote Blutstropfen zu erkennen waren. Der Historiker und Archivar Wilhelm A. Eckhardt hat diesen Sachverhalt mit lobenswerter historischer Nüchternheit dargestellt. (Vgl. Wilhelm A. Eckert, Die Wallfahrt nach Gottsbüren, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde (ZHG) Band 119 (2014), 1-22.)

Eckhardt orientiert sich an der Faktizität der Urkunden und enthält sich einer theologischen Einordnung dieses historischen Sachverhalts. Aus den Urkunden geht aber hervor, dass der Wallfahrtsort im 14. Jahrhundert sehr viel Geld einbrachte. Die Spenden der Gläubigen, die nach Gottsbüren kamen, sollten gedrittelt werden. Ein Drittel erhielt der zuständige Oberhirte, der Mainzer Erzbischof, ein Drittel das Benediktinerinnen-Kloster in Lippoldsberg an der Weser, das auch für den Unterhalt der Wallfahrtsseelsorger in Gottsbüren aufzukommen hatte, und das letzte Drittel sollte in den Bau einer Wallfahrtskirche investiert werden. Schließlich wurde auch die Sababurg als Schutzburg für die Pilger erbaut. Noch heute treffen wir in Gottsbüren auf eine gotische Kirche, die in ihren baulichen Dimensionen die Maße einer gewöhnlichen aus dieser Zeit stammenden Dorfkirche deutlich übertrifft.

Die historischen Urkunden beschäftigen sich grundsätzlich nicht mit dem Sachverhalt der Auffindung einer blutigen Hostie und einer Erklärung oder theologischen Deutung eines Wunders. Dennoch belegen die Urkunden historisch verlässlich, dass Gottsbüren mit seiner Wunderhostie für die Menschen im 14. Jahrhundert so attraktiv war, dass viele von weither in das abgelegene Dorf im Reinhardswald pilgerten und dort erhebliche Geldsummen oder Sachwerte spendeten. Dieses Phänomen ist im Mittelalter auch an anderen Orten nachgewiesen worden, so in Wilsnack oder Walldürn.

Zum theologischen Verständnis des Sachverhaltes des Hostienwunders von Gottsbüren verhilft uns in exzellenter Weise das Werk des Jesuiten Peter Browe über „Die Eucharistischen Wunder des Mittelalters“. (Vgl. Peter Browe, Die Eucharistischen Wunder des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie, Neue Folge Band IV) Breslau 1938.) Browe macht deutlich, dass es sich in Gottsbüren nicht um ein singuläres, sondern ein typisches Ereignis handelt. In sehr sorgfältiger Weise entwirft er eine Systematik von solchen Wundern und erstellt auch eine Liste der Orte, wo solche Wunder stattgefunden haben, so auch in Gottsbüren (vgl. Browe, 139 ff., insbes. 142.). Über den Sachverhalt der Auffindung einer blutigen Hostie in Gottsbüren haben wir keine sicheren historischen Nachrichten. 

In der Kirche befinden sich Reste eines Bilderzyklus (s. Bild oben), der nur schwer zu rekonstruieren und für eine kriminalistische Beweisführung unbrauchbar ist. Ich erlaube mir eine spekulative Rekonstruktion des Sachverhaltes: Irgendwo in oder um Gottsbüren wird Mitte des 14. Jahrhunderts eine mit roten Farbpartikeln versehene Brothostie gefunden. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Wunderberichte über blutende Brotoblaten wird sofort in der roten Farbe Blut erkannt. Warum erkennen die Menschen in der roten Farbe Blut? Die blutige Brotoblate wird theologisch als „Leib Christi“ bezeichnet. Dies rührt daher, dass Jesus bei seinem Abendmahl vor seinem Tod, die sog. Einsetzungsworte über das Brot und den Wein, welche er dann seinen Jüngern zum Verzehren reicht, spricht: Nehmt und esst, das ist mein Leib; nehmt und trinkt, dass ist mein Blut!“ (Vgl. u.a. 1 Kor 11, 23-26).

Bereits im 12. Jahrhundert entwickelt sich die Lehre der Transsubstantiation. Diese Lehre ist nicht biblisch, sondern wird aus der mittelalterlichen scholastischen Philosophie hergeleitet, die sich wiederum auf Ideen der aristotelischen Metaphysik bezieht, wonach etwas Seiendes bereits eine Möglichkeit (Potenz) in sich birgt, die durch einen schöpferischen Akt verwandelt werden kann. Ein Holzklotz ist sozusagen bereits eine potentielle Holzfigur, die durch einen schöpferischen Akt verwandelt wird. So werden dementsprechend durch die Wiederholung der Einsetzungsworte Jesu Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt, sofern derjenige, der sie spricht, auch dazu befugt ist, und das ist natürlich nur der gültig und erlaubt geweihte Priester.

An dieser Stelle beginnt schließlich das große Missverständnis dieser Lehre, was schon vor der Reformation im 16. Jahrhundert zu großen theologischen Auseinandersetzungen führte. Das Missverständnis bestand (und besteht bisweilen bis heute) darin, dass viele glaub(t)en, Brot und Wein würden sich tatsächlich auf mystische Weise in real existierendes Fleisch und Blut Jesu verwandeln. Die Hostienwunder wären dann dementsprechend die sichtbaren Beweise dieser kirchlichen Lehre.

Transsubstantiation aber bedeutet nicht Verwandlung im Sinne eines chemischen Substanzbegriffes, sondern bezeichnet die Veränderung des Wesens eines Gegenstandes. So zum Beispiel sind zwei Ringe im Schaufenster eines Goldschmiedes schlichtweg Ringe. Wenn sich aber Brautleute diese Ringe in einer Zeremonie gegenseitig an den rechten Ringfinger stecken, dann verändert sich das Wesen dieser Ringe. Es handelt sich jetzt um Eheringe, aber die chemische Substanz der Ringe bleibt unverändert.

Diese Komplexität des Transsubstantiationsbegriffs führte im Mittelalter zu massiven Fehldeutungen und erzeugte vielerlei abergläubische Praktiken, bis dahin, dass aus jenen - dem Priester abgelauschten - lateinischen Einsetzungsworten, „Hoc est enim corpus meus...“ („Das ist mein Leib...“) die Zauberformel „Hokuspokus“ entstand. Sehr tragisch ist auch die Tatsache, dass viele Hostienwunder einen judenfeindlichen Hintergrund hatten, weil vielerorts behauptet wurde, Juden hätten geweihte Hostien mit einem Messer zerstochen, und dabei sei Blut aus der Brotoblate geflossen (vgl. Browe 128 ff.). Die Reformation verwarf die Lehre von der Transsubstantiation, um fortan allen Missverständnissen und Missbräuchen entgegenzuwirken. Eine Chronik aus dem Jahr 1527 berichtet schließlich von Verbrennung der Bluthostie zur Beendigung der „Abgotterie“ in Gottsbüren (vgl. Eckhardt, 17).

Die katholische Kirche indes hält bis heute an der Lehre der Transsubstantiation fest. Das Konzil von Trient definiert allerdings die Transsubstantiation theologisch stringent ganz klar als „Wesensveränderung“ und nicht als Veränderung der chemischen Substanz in wirkliches menschliches Fleisch oder Blut, so wie es bereits vom Kirchenlehrer Thomas von Aquin und vielen Theologen des Mittelalters gelehrt wurde (vgl. Browe, 184 ff.). Nichtsdestotrotz, bis in die Gegenwart hinein, werden immer wieder Hostienwunder gemeldet, die bisweilen auch kirchlich anerkannt werden, wie beispielsweise im heute polnischen Liegnitz.

Ob es sich in Gottsbüren, Liegnitz und anderswo um Wunder oder um „rotgefärbte Mikroorganismen“ (Browe, 202) handelt, theologisch bleiben diese Blutwunder immer fragwürdig, auch für katholische Theologinnen und Theologen. Bereits ein großer Theologe des Mittelalters, Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464) äußert sich dazu ablehnend (vgl. Browe 166, 169). Es stellt sich nämlich die Frage, welchen Sinn es macht, dass der auferstandene und in den Himmel aufgefahrene Sohn Gottes, der durch seinen Tod die Welt ein für alle Mal und endgültig erlöst und mit Gott versöhnt hat, weiterhin blutet. Ist er wirklich in der sog. eucharistischen Gestalt von Brot und Wein noch leidensfähig?

Aus meiner theologischen Sicht stellt jede aktuell blutende Hostie die einzigartige Heilstat, die endgültige Erlösung durch den in Zeit und Raum einmalig stattgefundenen Tod Jesu am Kreuz, sein einmaliges Hinabsteigen in das Reich des Todes und seine glorreiche Auferstehung und Himmelfahrt in Frage. Warum also hält die Kirche an diesem Wunderglauben fest? Browe hat diese Frage bereits 1938 beantwortet: „Der Hauptgrund, warum man so hartnäckig und mit allen Gründen die sakramentale Gegenwart [in blutenden Hostien] verteidigte, war die kirchliche Praxis. Wenn Christus in diesen Hostien und Korporalien [Kelch-bzw. Altartüchern] weder räumlich noch sakramental zugegen war, so war ja die Anbetung Frevel und Abgötterei; das Volk, das in Massen hinströmte, war betrogen; die Kirche, die diesen Kultus erlaubte und förderte“ und damit nicht nur in Gottsbüren viel Geld verdiente, „hatte geirrt“ (Browe, 189). 

Hier offenbart sich ein großes katholisches Dilemma, was sicherlich auch dazu beiträgt, dass sich die katholische Kirche bisher den Forderungen nach der Abschaffung des Zölibates oder der Zulassung von Frauen zum Priestertum verweigert, denn dann müsste sie zugeben, sich geirrt zu haben, und Martin Luther bereits vor über 500 Jahren Recht gehabt hätte.

Kehren wir noch einmal zurück in das heute wieder beschauliche Gottsbüren. Die Geschichte vom Leib Christi erfuhr wahrscheinlich nach der Reformation eine narrative Transformation. Der Protestantismus sprach inzwischen nicht mehr von der Heiligen Messe oder dem Messopfer, sondern von Predigt und Abendmahl. So geriet der Begriff des Leibes Christi als Bezeichnung für das Brot, welches beim Abendmahl konsekrieret wurde, in Vergessenheit. Die Geschichte von der Auffindung des Heiligen Leibes aber wurde weitererzählt. Nun aber ging es nicht mehr um eine blutige Hostie, sondern um einen echten Leichnam mit Wundmalen, der im Wald aufgefunden und mit der realen Person Jesu Christi identifiziert wurde. Eckhardt bemerkt dazu lakonisch: „Die Wallfahrt nach Gottsbüren ist längst Geschichte. Aber die abstruse Vorstellung, man habe damals im Reinhardswald einen Toten gefunden und für den unverwesten Leichnam Christi gehalten, spukt noch immer in manchen Köpfen, die von mittelalterlichem Wunderglauben nicht den Schimmer einer Ahnung haben. Mit so einem Unsinn hätte man im 14. Jahrhundert niemanden hinter dem Ofen hervorlocken können.“ (Eckardt, 17 f.)

Wie auch immer, beide Geschichten machen in theologischer Hinsicht keinen Sinn. Dennoch sind sie sicherlich kein Unsinn, sondern vielmehr der Ausdruck einer tiefen menschlichen Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht Gott zu suchen, zu finden und zu berühren. 

UTGH