03 Oct
03Oct

Warum "Weserberglander"? Dieser Begriff ist gleichermaßen ein selbstgewählter Spitzname, weil ich ein "Weserberglander" bin. Einige Jahre lebte ich auf einer Insel, direkt in der Nordsee. Das Leben zwischen Ebbe und Flut und die extreme Landschaft von Meer, Weite und Dünen, Licht und Bewegung waren nötig, um das Weserbergland, meine Heimat, wieder- oder gar neu zu entdecken. Jedesmal wenn ich von der Nordsee heimkehrte, wurde mir immer klarer, was das Weserbergland eigentlich ist: Der Inbegriff einer lieblichen Landschaft!

Die Berge bei uns sind nicht spektakulär hoch. Das Weserbergland liegt zwar geographisch betrachtet auf der Mittelgebirgsplatte, aber es ist mit seinem 528 m höchsten Berg, der Großen Blöße im Solling, nicht wirklich ein Mittelgebirge wie der Harz oder der Schwarzwald. Trotzdem entdecken Menschen in dieser Gegend nach und nach auf den zweiten und dritten Blick das Spektakuläre, das Besondere, das Proprium dieser einzigartigen Landschaft.

Was ist das Besondere dieser Landschaft des Weserberglandes? Zunächst einmal die Tatsache, das sich dieser Raum nicht so einfach einordnen und in irgendeine Schublade stecken lässt. Als Weserberglander bin ich ein Mensch an der Peripherie, an der Peripherie Niedersachsens, Westfalens, Hessens oder Lippes.

Ich kann diesen Raum sehr weit fassen, dann wäre die Westgrenze das Eggegebirge und der Teutoburger Wald, die Nordgrenze das Wiehen- und Wesergebirge zuzüglich Bückeberge und Deister; im Osten die Ebenen, die Leine- und Innerste-Bergland vom Harz trennen und im Süden die Ebenen, die - jenseits von Werra und Fulda - das Weserbergland vom hessischen Bergland trennen. 

Würde ich das Weserbergland eng umschreiben, könnte ich sagen, dass es das Gebiet direkt westlich und östlich der Weser zwischen Hannoversch Münden und Porta Westfalica ist, dort wo die Weser das Weser- und das Wiehengebirge durchbricht und in die norddeutsche Tiefebene fließt. Ich könnte auch sagen, alles gehört zum Weserbergland, was Bäche und Flüsse hat, die irgendwann in die Weser münden. Das würde bedeuten, dass das Weserbergland bereits auf der Wasserkuppe in der Rhön (Fulda) oder im Thüringer Wald (Werra) oder im Sauerland (Diemel) beginnen würde. Die Leute aus der Rhön, dem Thüringer Wald oder dem Sauerland würden aber bestimmt nicht so begiestert sein, vom Weserbergland eingemeindet zu werden.

Wo sind die Grenzen meines Weserberglands? Für mich beginnt das Weserbergland im Süden nördlich von Fulda und Werra, mit dem Reinhardswald, in dem wohl viele der Grimmschen Märchen, nicht nur das Dornröschen von der Sababurg, ihren narrativen Ursprung haben. Auch die Hofgeismarer Rötsenke gehört für mich dazu. Der Kaufunger Wald wächst rechts der Weser gleichermaßen in das Weserbergland hinein, gefolgt vom Bramwald, in dem sich der Turm der Bramburg findet. Die einen sagen, hier habe Rapunzel gelebt, andere bestehen darauf , dass dies in Trendelburg gewesen sei. Westlich der Weser zähle ich das untere Diemeltal zum Weserbergland, aber ich hüte mich zu sagen, wo das untere Diemeltal beginnt, weil ich es nicht wirklich weiß.

Die kompletten Flusstäler von Nethe, Emmer, Humme und Exter sind für mich Bestandteil des Weserberglandes. Warum aber nicht auch die Täler der Kalle oder der Bega? Ich kann das nicht begründen, aber es ist da ein Gefühl in mir, dass Kalle und Bega, auch wenn sie zum Flusssystem Weser gehören, nicht mehr dazugehören; vielleicht, weil ich in dieser Gegend als Kind kaum gewandert bin. 

Östlich, also rechts der Weser, gehören für mich die Täler der Nieste, der Schwülme, der Holzminde und der Bodenwerderschen Lenne dazu; bei der Hamel, die bei Hameln in die Weser mündet, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, weil sie bereits zum Calenbergschen Land gehören könnte. Auch dieses Tal ist mir fremd geblieben, wahrscheinlich, weil ich am linken Weserufer groß geworden bin. 

Ganz wichtig ist die Frage nach dem Lippischen Bergland, auch Keuper genannt. Ich habe mir angewöhnt zu sagen, dass der Lippische Keuper in das Weserbergland hineinwächst und seinen Gipfelpunkt mit dem Köterberg erreicht. Der Köterberg ist mit knapp 496 m zwar nicht der höchste Berg des Weserberglandes, aber der wohl markanteste, weil er frei daliegt, von allen Seiten zu sehen ist, und wohl einer der schönsten Aussichtspunkte ist, von dem aus man das ganze Weserbergland bei guter Sicht betrachten kann. Mehr noch, bei guter Sicht ist auch der Brocken im Harz zu erkennen. Seinen Endpunkt hat der Lippische Keuper für mich mit dem Klüt bei Hameln am Westufer der Weser, von dem aus man einen wunderschönen Ausblick auf die Rattenfängerstadt hat.

Im Norden wird das Weserbergland vom Wesergebirge und vom Süntel begrenzt. Die Bückeberge und der Deister liegen zwar dicht am Weserbergland, sind aber für mich gefühlt keine Bestandteile des Weserberglandes mehr, weil sie – auf einer topographischen Karte unschwer zu erkennen – vom Weserbergland abgegrenzt und für sich daliegen. 

Viel schwieriger ist es, die Ostgrenze des Weserberglandes zu umschreiben. Das Leine- und Innerste-Bergland ist vom Weserbergland schwer abzugrenzen, weil es viel zu sehr mit diesem verwoben ist, wie wiederum der Blick auf die Landkarte zeigt. Außerdem münden Leine und Innerste in die Aller, die wiederum in die Weser mündet, das heißt, hier besteht eine enge Verwandtschaft.

Das ganze Weserbergland im kleinen wird für mich noch einmal auf beeindruckende Weise durch die eher karge Ottensteiner Hochebene abgebildet, die sich zwischen Polle bis Grohnde links der Weser und rechts der Emmer zwischen Lügde, Pyrmont und Welsede aus lieblichen Tälern heraus zu einer beeindruckenden Hochfläche emporschwingt. Gemäß einer Sage stach der Teufel von Ottenstein aus wütend mit seiner Lanze bis zur Weser durch. Doch durch die Gnade Gottes wurde diese Wut verwandelt, denn bis heute quillt an der Weser bei der Steinmühle, auch Teufelsmühle genannt, Wasser hervor, das über Jahrhunderte hindurch zum Nutzen der Menschen eine Mühle antrieb und bis heute fließt. 

Ebenso ein Weserbergland im Weserbergland findet sich gegenüber der Ottensteiner Hochebene auf der rechten Weserseite, nämlich die Rühler Schweiz. Aufgrund des milden Mikroklimas gedeiht hier das Obst besonders gut, und früher hatte fast jedes Haus in Rühle eigene Brennrechte. Im Mittelalter versuchten Mönche hier sogar Wein anzubauen, deshalb gibt es bei Rühle auch noch die alte Gemarkung "Am Weinberg". Fährt man diese rühlische Schweiz empor, trifft man wiederum auf herrliche verwunschene Täler. Auf der anderen Seite dieser Schweiz dann treffen wir auf das Odfeld und das ehemalige Zisterzienser-Kloster Amelungsborn, über das ich bei nächster Gelegenheit berichten werden.

Wie auch immer, das ist meine Sichtweise; andere mögen das ganz anders sehen, und ich erhebe hier nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder geographische Richtigkeit. Letztlich und endlich ist ja alles eine Frage, welches Ordnungssystem ich hier zugrunde lege. Bei dieser Gelegenheit verweise ich auf den genialen Einzelgänger und Autodidakten Hans Jürgen von der Wense, der sich intensiv mit diesen Fragen der Beschreibung von Landschaften beschäftigt, und schließlich zu keinem endgültigen Ergebnis kommt. (Vgl. Hans Jürgen von der Wense, Routen I, Südniedersachsen, herausgegeben von Reiner Niehoff, Berlin 2023.)

Wahrscheinlich bin ich zu meiner Sicht des Weserberglandes gekommen, weil ich das Weserbergland in meinem Leben so erfahren habe. Meine Weserbergland-Erfahrungen verdanke ich zuerst meinem lieben Vater. Er erschloss meiner Mutter, meinen Geschwistern und mir dieses wunderschöne Land. Er sorgte dafür, dass ich als ein hier Geborener mich hier auch geborgen, aufgehoben und zu Hause fühle. Intuitiv war meinem Vater klar, dass eine überschaubare Heimat für den Menschen ein unschätzbarer Wert ist, um sein Woher und sein Wohin zu erkennen, um seine kulturelle, geschichtliche und religiöse Identität zu verstehen und daraus Kraft zu schöpfen.

Mein Vater wusste um die Bedeutung von Heimat, denn er hatte nach 1945 wie auch meine Mutter und Millionen andere Menschen seine Heimat verloren. Trotz dieses herben Verlustes fand er für sich und uns im Weserbergland eine neue Heimat.

Wenn ich im Weserbergland seine letzte irdische Ruhestätte besuche, habe ich das unendliche Vertrauen, dass er jetzt in der ewigen Heimat, in jenem Haus des Himmlischen Vaters mit den vielen Wohnungen lebt und an seine Frau und seine Kinder denkt, für sie betet und sie glücklich erwartet.

UTGH